Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 52


"Wenn sie mir die Frage erlauben wollen: wohin führt der zweite Ausgang aus der Höhle?"
Die beiden Gnome waren wiederaufgetaucht, nachdem die vier deprimiert vor dem Höhleneingang erschienen waren. Kol Therond hatte keine Zeit verschwendet, bevor er sie ansprach.
"Ein ander Stamm. Freunde."
"Kann der ... Eindringling dort hinauskommen?"
"Er kann. Er isßt aber nircht."
"Wie können sie sich sicher sein?" frage Malandro ungeduldig.
"Wir chaben sie gewarnt. Sie chätten gesagt."
Kol Therond nickte während die anderen einen Augenblick benötigten, um die Möglichkeit der magischen Kommunikation als eine logische Erklärung zu akzeptieren.
Einen Moment lang standen sie ratlos herum, bis Gunnar schließlich fragte: "Was ist mit dieser Höhle, dass der Mahlstrom sich hierher entleert hat?"
Der Gnom betrachtete ihn abschätzend und wechselte ein paar Worte mit seinem Gefährten. Schließlich begann er zu erzählen.
Er erzählte von seiner Kindheit, von einer Zeit, als die [Götter] nach auf Gebete und das Flehen der Gläubigen antworteten. Einer Zeit, in der mächtige Magier Berge versetzen konnten und Krieger, mit flammenden Schwertern, die Monster zurückdrängten. Es war die Zeit, als die Höhle des Reshans noch nicht mit dem ganzen Müll gefüllt gewesen war.
Die Höhle des Reshans, so nannte er jenen Ort, in den der Oravahler gegangen war.
Der Reshan, das Zentrum all jener Gnomengemeinschaften, die in den Höhlen dieses Gebirges und südlich davon existierten. Der Reshan, der die Heimat oder vielleicht auch nur das Sprachrohr ihres Gottes war.
Von allem, was sie verstanden, war dieser Reshan ein gewaltiger, roter Kristall gewesen. Bis zu dem Tag, als einige Menschen die Höhle betraten, und ihn zerstörten. Seitdem sprach der Gott nicht mehr zu ihnen. Seitdem war die Magie aus der Welt verschwunden, langsam zuerst, bis ganze [Völker] ausstarben, weil sie nicht mehr in ihrer Umwelt überleben konnten.
Und irgendwann hatte sich die Höhle wieder gefüllt, unter donnern, knarschen und Lawinen, die zwei Dörfer zerstörten. Es hatte sehr lange gedauert, bis sie begriffen hatten, was geschehen war. Bis vor fünf Jahren hatte ihnen niemand erklären können, woher der Müll gekommen war. Selbst dass er aus dem Meer stammte, mussten sie Jahre nach dem Ereignis von einem Reisenden erfahren, der das Meer gesehen hatte und den Geruch wiedererkannte.
Es hatte Versuche gegeben, das Beste aus der Situation zu machen. Immer wieder war Vorstöße gemacht worden, Rohstoffe aus der Höhle zu befreien, aber der Aufwand und die Gefahr für das Leben der Arbeiter hatte sich als zu hoch herausgestellt, so dass sie schließlich aufgegeben hatten. Stattdessen hielten sie den Weg am Rand frei, um schneller zum Nachbardorf zu gelangen.
"Kann man von oben hereinkommen", fragte Malandro plötzlich.
Der Gnom blickte den Feldstraßler ausdruckslos an, zuckte denn aber einmal mit den Augenbrauen. Als er keine Reaktion auf seine Verneinung bemerkte, fügte er noch "Magie, vielleircht" hinzu.
Tiscio, der besser verstanden hatte, was Malandro eigentlich fragen wollte, ergänzte: "Kann der Oravahler ... der Eindringling ... irgendwo anders raus sein?"
"Chaben noch nirchts gechört."
"Vielleicht auf der anderen Seite."
"Wieder."
"Was?" fragte Malandro.
"Wieder: Chaben noch nirchts gechört."
"Der Oravahler, den wir verfolgten, ist sehr gefährlich. Und was er sucht ist nicht gut für die Welt."
"Er wird nircht entkommen."
"Er ist sehr mächtig."
"Er isßt nircht der Erste. Er chat uns überrascht. Jetzt wir wissen ihn. Jetzt wir ihn aufhalten."
"Ihr wisst, was er ist?"
"Nircht in eurer Ausdruck. Vielleircht Golem?"
"Keine Ahnung, was ein Golem ist", sagte Malandro, wobei Gunnar versucht war, es ihm zu erklären, "aber was wir gesehen haben, war irgendwie ein Mensch, in den man Mechanik gesteckt hat. Vielleicht ist das Gehirn noch menschlich, aber so weit sind wir nicht mehr gekommen."
Der Gnom machte eine weitere Bewegung mit den Augenbrauen, deutete dann aber auf den Platz um sie herum.
"Dürft bleiben, bis Abend. Dürft nircht übernachten. Können nicht versorgen."
"Heißt das, er kommt heute wieder raus?" fragte Tiscio, der immer noch seine Rechte mit der Linken stützte.
"Heißt, sind die Regeln."
"Ah", machte Gunnar und nickte, was der Gnom nicht verstand.

Während es dunkler wurde, bastelte Gunnar an den Kommunikationsstöpseln herum, die er sich von den Leichen der SLD-Männer geliehen hatte. Tiscio beobachtete ihn dabei, während er seine Hand auf einem Stein ausruhte. Zwischendurch warf er immer wieder einen Blick auf den Eingang zur Müllhöhle, wo inzwischen zwei jüngere Gnome wache hielten. Sie stützten sich auf schwere Stäbe, wobei ihre Haltung den Eindruck vermittelte, dass sie jederzeit dazu übergehen konnten, den Stab auf jemand anderen zu stützen. Außerdem hielten sie gebührenden Abstand zum Eingang, damit sie nicht aus dem Dunkeln heraus angesprungen werden konnten. Tiscio vermutete zwar, dass die Gnome besser im Dunkeln sehen konnten als er, aber ein wenig Vorsicht schien angebracht zu sein.
Schließlich kam Bewegung in den Platz.
"Er kommt."
"Was?" fragte Gunnar und blickte auf. Als er jedoch sah, wie die beiden Wächter ihre Position wechselten und ihre Stäbe aufnahmen, wusste er, was der Gnom meinte. Hektisch schnallte er den Netzwerfer auf seinen Rücken und machte sich bereit.
Auch Tiscio erhob sich, etwas mühsamer. Die Stunden der Einhändigkeit hatten ihren Tribut gefordert. Gleich darauf gesellten sich auch die anderen Mitglieder ihrer kleinen Gruppe zu ihnen, gefolgt von weiteren jungen Gnomen mit bleichen Nasen, die neben Stäben auch Schleudern und Wurfspieße trugen. Malandro musste an die Zuversicht ihres Dolmetschers denken, dass sie den Oravahler aufhalten könnten, und konnte nur ungläubig den Kopf schütteln.
Gemeinsam mit den anderen starrte er auf die dunkle Öffnung im Fels. Er versuchte irgendetwas in der Dunkelheit zu erkennen. Und je mehr er starrte, desto mehr begannen seine Hände zu zittern. Auch für ihn war es ein langer Tag gewesen. Aber das war es nicht alleine. Bisher waren sie den Oravahlern gefolgt, hatten sie gejagt, ohne genau zu wissen, was auf sie zukommen würde. Jetzt jedoch, jetzt ... jetzt ... jetzt wusste er sehr genau, auf was sie sich eingelassen hatten und dass sie bisher einfach nur unwahrscheinliches Glück gehabt hatten.
Dieses Mal stellten sie sich ihrem Gegner bewusst entgegen, in dem Bewusstsein, dass sie ihm körperlich hoffnungslos unterlegen waren und nur eine einzige Chance hatten, von der sie nicht einmal wussten, ob sie überhaupt eine Auswirkung auf ihn haben würde.

Dann sah er, wie die Gnome unruhig wurden und der eine oder andere einen Schritt zurück machte. Er bekam jedoch keine Gelegenheit mehr, sich zu wundern, denn in diesem Moment trat der Oravahler in das schwindende Licht.
Sie hatten gewusst, dass Metall unter seiner Haut versteckt gewesen war. Jetzt aber war es offensichtlich.
Von seiner Haut war nicht viel übriggeblieben, nur genug, um den blutigen Schrecken zu akzentuieren. Haarfetzen hingen in Flecken an seinem Kopf, die Augen schienen noch menschlich zu sein und am Arm stach ein Knochen durch das Metall. Aber fast überall hatte seine Suche durch den Müll des Mahlstroms das Fleisch abgerissen. Malandro konnte es förmlich vor sich sehen, wie der Oravahler sich hineingegraben hatte, mit den Fingern voranziehend, und mit jeder Bewegung etwas mehr seines Körpers verlor. Aber er hatte nicht aufgegeben, bis er gefunden hatte, weswegen er gekommen war. Er hielt das Horn in seiner Linken, eine Fanfare eigentlich, schmutzig, aber gegen jede Logik immer noch in Form. So seltsam es scheinen mochte, war dies der Moment, in dem Malandro zum ersten Mal wirklich begriff, was echte, alte Magie tatsächlich bewirken konnte und wie viel Zaubermacht in diesem Gegenstand stecken musste, um ihn über all die Jahrhunderte zu erhalten.

Die Feldstraßler, wie auch die Gnome, spannten ihre Körper an, bereit für den Kampf.
Aber das Wesen, dass dabei war, unbeschreibliches Unheil in die Welt hinauszutragen, beachtete sie nicht einmal. Es beschleunigte nur seine Schritte, wobei ersichtlich wurde, dass der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen worden war. Sie hatten ihn vor kurzem noch schneller als einen Hund rennen sehen, aber jetzt wackelte er auf den Beinen, konnte nicht schneller gehen, als ein normaler Mensch. Dennoch konnte nicht einmal die Magie, die als dutzende leuchtende Geschosse von den alten Gnomen auf ihn geworfen wurde, ihn aufhalten.
"Gunnar!" brüllte Malandro, als er mitansehen musste, wie sich der Oravahler auf die Treppe zubewegte.
Der Ruf löste den jungen Erfinder aus seiner Starre und er brachte seinen Netzwerfer in Anschlag. Er hatte noch ein einziges Netz, ein einziges, kostbares Netz. Er bezweifelte, dass er einen zweiten Schuss hätte abgeben können, trotzdem war es kein gutes Gefühl, nur einen Versuch zu haben.
Er stellte sich hinter den Oravahler, so dicht, wie er es sich traute. Und weil er ein Wissenschaftler war, entschied er für sich, dass er, wenn er den Schuss abgeben musste, es so gut und so ruhig machen sollte, wie es sein verängstigtes Gehirn es erlauben würde.
Er drückte den Schalter und die Mechanik setzte sich in Bewegung. Das Ventil des Druckluftkontainers gab ein kurzes, beunruhigendes Geräusch von sich und das Netz wurde durch die Röhre gedrückt, bis es aus der Öffnung hinausschoss und mit einer beunruhigend langsamen Geschwindigkeit auf den Oravahler zuflog, während alle Augen ihm zu folgen schienen.
Dann traf es auf das Wesen aus der Feste. Es wurde nach vorne geworfen und blieb unter dem Netz liegen. Für einen Augenblick blieb es liegen, bevor es versuchte, sich aus dem Netz zu befreien.
"Tis! Krieg deinen Arsch hoch." Der Angesprochene warf seinem Freund einen bösen Blick zu, während er sich bereits auf den Weg machte. Nicht so schnell, wie er es sonst getan hätte, aber er gab sich Mühe.
Als er den Oravahler erreicht hatte, zögerte er nur für einen Moment. Er hatte Angst. Vor dem Wesen, davor, dass das hier nicht funktionieren würde oder dass er nicht richtig traf. Vor dem was danach geschehen würde. Aber vor allem, dass er nicht mehr wusste, warum er überhaupt auf dieser Mission war. In diesem Augenblick, als es in seiner Hand lag, ihren Feind zu besiegen oder sie alle zum Tode zu verdammen, erschienen ihm Handlungen der letzten Wochen so unbedeutend und sinnlos, dass er fast wieder weggegangen wäre.
Dann berührte er den Kopf des Oravahlers und wusste nichts mehr. Er, wie auch Gunnar, der sich als einziger ebenfalls dem Wesen genähert hatte, wurden von den Füßen gerissen und von der Druckwelle der magischen Entladung mehrere Schritte von dem, was die Gnome als Golem bezeichnet hatten, weggeschleudert.
Als Tiscio wieder aufwachte standen seine Freunde wie auch Kol Therond und der alte Gnom über ihn gebeugt. Sie hatten eine Lampe herangeholt, so dass er sie deutlich erkennen konnte. Gunnars Gesicht stach etwas aus den anderen hervor, da man deutlich erkennen konnte, wie benommen er noch war. Aber immerhin war er auf den Beinen, anders als Tiscio, der sich benommen fühlte und lag.
"Wir haben's geschafft", verkündete Malandro und hielt zum Beweis das Horn in die Höhe.
"Ich habe ihm noch einen Bolzen in den Kopf geschossen."
Tiscio konnte noch nicht wieder klar genug sehen, weswegen ihm entging, wie der Botschafter Malandro einen irritierten Blick zuwarf.
Er streckte seine Hand aus, um sich aufhelfen zu lassen, zog sie aber sofort wieder zurück. Der Tag mit dem Handschuh hatte Spuren in seinen Verhaltensmustern hinterlassen. Gunnar bemerkte es.
"Die Magie ist raus. War vermutlich etwas viel. Aber wir konnten es ja nicht testen."
"Er ist wirklich tot?"
"Ja. Ich wollte schon hin und einen Arm abschrauben. Aber die anderen haben mich nicht gelassen."
"Wie ich bereits betont habe, Herr van der Linden, halte ich ihren Forscherdrang für überaus lobenswert, aber sie dürfen dabei doch nicht den Anstand vernachlässigen."
"Wieso? Der Oravahler ist mehr Maschine als Mensch und er ist tot. In der Universität steht in jedem zweiten Raum ein Skelett. Schlimmer ist das auch nicht."
"Dem würde ich widersprechen wollen. Unser Gegner ist immer noch zum Teil Mensch und dabei vor allem nicht nur ein Skelett. Aber da ich nicht gewillt bin, den Leichnam in Teilen mit in den Ornithopter zu nehmen, werden sie ihre Intentionen zügeln müssen."
"Pfuh", machte Malandro, dem auch nicht daran gelegen war, seinem Freund bei der Operation zuzukucken. "Außerdem hast du schon einen deiner Schraubendreher dabei abgebrochen, das Horn aus der Hand zu bekommen. Den Arm kriegst du bestimmt nicht ab."
"Ist schon gut. Ich mache es ja nicht."
Endlich erhob sich Tiscio, wobei sein verkrampfter Arm zu zittern begann und er feststellte, dass er in den nächsten Tagen viele blaue Flecken haben würde. Er folgte den anderen zur Leiche, wo sie ein wenig Zeit damit verbrachten, sie anzustarren und Tiscio sich sogar einmal herunterbeugte, um an ihr zu rütteln.
"Wir danken eurch für Hilfe. Wir müssen mit Magiern sprerchen, ernst. Das wäre schlercht gewesen, wenn er entkommen."
"Äh, bitte. Und hier ist das Horn." Malandro hielt es dem Gnom entgegen, der es jedoch nicht annehmen wollte. Stattdessen blickte er betrübt zu Boden.
"Wir würden nehmen, zürckbringen. Sonst." Er atmete schwer durch. "Aber was, wenn andere kommen? Wir konnten nicht aufhalten."
"Wir wolln's auch nicht", platzte es aus Tiscio heraus.
"Ne, bestimmt nicht. Aber können wir es nicht zerstör'n?"
"Wir wüssten nicht wie, Herr Sabrecht. Genauso wenig wie jene, die es in den Mahlstrom warfen. Was genau der Grund ist, weswegen sie es getan haben."
"Was?"
"Es in den Mahlstrom zu werfen."

Die Jungen aus der Feldstrasse